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Jüdisches Leben in Niederzissen

Brunhilde Stürmer (von links), Falk Wiesemann, Elisabeth Singer, Gerd Friedt, Linda Wiesner, Gisela Reichrath und Richard Keuler haben mit Textbeiträgen zum Erscheinen des Buches beigetragen. Foto: Hans-Willi Kempenich

 

Vorgeschlagen von: Harvey Berger & Janice Mulligan, San Diego, CA, USA; Brigitte & Johannes Decker, Niederzissen, Deutschland; Asher & Ricky Friesem, Rehovot, Israel; Evelyn & David Herschler, Millsboro, DE, USA; Leo Hoenig, New York, NY, USA; Richard Keuler& Gisela Reichrath, Neiderzissen, Deutschland; Ernst & Brigitte Klein, Volkmarsen, Deutschland; Harold Levie, Amsterdam, Niederlande; Ruth Morgan, Tyne and Wear, GB; Rosalie & Stan Rogow, Kapstadt, Südafrika; Gerardo Schwarz, San Miguel de Allende, Mexiko; Miguel & Betty Schwarz, San Pedro, Mexiko 

erhielt Brunhilde Stürmer den Obermayer German Jewish History Awards 2018!

 

 

 

Jüdische Geschichte in und um Niederzissen

Brunhilde Stürmer und Gerd Friedt

Einleitung

Als Udo Bürger 1992 seinen Beitrag „Zur Geschichte der Juden" in der Gemeinde-Chronik Niederzissen vorstellte, schien es als ob die Aufarbeitung dieses Teils der Ortsgeschichte abgeschlossen sei. Sein gut recherchierter und lesbarer Beitrag ist Grundlage dieses Exzerpts zudem er dankens- werterweise seine Zustimmung gab. Dass jedoch damit die Aufarbeitung der jüdischen Ortsgeschichte Niederzissens nicht zu Ende ist, verdanken wir der Beharrlichkeit und der Neugier, sprich dem Forschungsdrang einer einzelnen Person. Ich spreche hier von Brunhilde Stürmer. Hausfrau, Mutter, Unternehmersgattin, Hei- matforscherin und langjährige Mitarbeiterin der Buchhaltung im Kloster Maria Laach. Sie wollte unbedingt wissen, was es mit den nicht geborgenen Papieren auf dem Dachboden der Schmiede des ehemaligen Synagogengebäudes in Niederzissen auf sich hat. Auch weckten die hebräischen Inschriften der Grabsteine auf dem Judenfriedhof ihr Interesse. Der Zufall führte uns vor ca. 15 Jahren zusammen. Sie erzählte mir von den alten Papieren und sandte mir Kopien von einzelnen Blättern zur Definition und Übersetzung. Ich konnte sie bewegen, sukzessive größere Mengen der Papiere zu bergen. Nach Durchsicht und Übersetzung etlicher dieser Fundstücke, u. a. vor Ort, war mir klar, dass es sich bei den Papieren auf dem Dachboden um eine Genisa (Lagerraum für defekte und unbrauchbare jüdische Ritualgegenstände) handelte.

Für diesen Teil der Eifel und den linken Niederrhein ein einmaliger Fund. Immer wieder drängte ich Brunhilde Stürmer aus Angst vor einem Brand, Verkauf oder Abriss des Gebäudes, eindringlichst, soviele der Papiere wie möglich zu bergen und zu sichern. Erst unter Richard Keuler, dem derzeitigen Ortsbürgermeister, konnte das ehemalige Synagogengebäude für die Ortsgemeinde angekauft werden und der Schatz auf dem Dachboden von Mitgliedern des in mühsamster Arbeit komplett geborgen werden.Nach und nach stellte sich heraus, dass es sich bei der Genisa der Synagoge Niederzissen um einen der großen Genisafunde der letzten 30 Jahre handelt. Für die Innenansicht, den religiösen Kultus, das Wissensniveau und soziale Struktur einer kleinen Landgemeinde ein einmaliger Fundus, der weitgehende Folgen für das Verständnis der jüdischen innergemeindlichen

Geschichte in den kleinen Landgemeinden am linken Niederrhein haben dürfte. Zu den Funden gehören Unmengen von Bibeln, Thorafragmente, Prophetenbücher (Sefer Haftarot), Gebets- und Festtagsgebetsbüchern (Machsorim) mit handschriftlichen Eintragungen, Bücher der Psalmen, gedruckt in allen Teilen Westeuropas, die bis in die Anfänge des 18. Jahrhunderts zurück reichen. Fragmente eines Beschneidungsbuches um 1794, Marktkalender, Haggadot (Pessach- erzählungen), Erbauungsbücher für Frauen (Zene Rene), Omerkalender, Buss - und Bittandachten (Sefer Techinot), Kabalablätter mit den Sefirot (jüdische Mystik), Bescheidungswindeln (Mappoth) 1653 beginnend, Hochzeitskontrakte um 1760 (Kethubot), Thoramäntel, Thoravorhänge, Tallessim (Gebetsschal), Kippot (Käppchen), Mesusot (Türkapseln), Anotationsbücher (Geschäftsbücher in hebräisch und deutsch), Luvavsträusse (Palmen und Myrthenstrauß fürs Laubhüttenfest), Schulbücher, eine große Menge handgeschriebener Briefe (Feldpostbrief von 1808), Schriften und Rechnungen, Wochenabschnittsbüchlein zur Bar Mitzwa, usw. Viele der alten Schriften sind in Hebräisch als auch Judendeutsch in Raschischrift verfasst und beinhalten wunderschöne Holzschnitte mit verschiedensten Motiven. Für eine weitgehen- dere Aufarbeitung und wissenschaftliche Wertung konnten wir drei renommierte Wissenschaftler gewinnen. Im Zuge verschiede- ner Besuche in Niederzissen reifte u. a. auch der Entschluss die Grabsteine des jüdischen Friedhofs fotografisch zu sichern, zu transkribieren und zu publizieren. Dieses Vorhaben wurde 2012 abgeschlossen.

Mit dem Friedhofsprojekt wurde Udo Bürgers erster Beitrag zur Geschichte der Juden in Niederzissen erweitert und fortgesetzt. Auch ist inzwischen ein riesiger Fundus an genealogischen Daten erschlossen. Ein noch wesent- licherer Beitrag der letzten Jahre war der Rückbau und Umgestaltung des alten Synagogengebäudes zu einer Erinnerungs - Gedenkstätte und Museum, welches 2012 in einer bewegenden Feier, unter Einbeziehung von Nachkommen der Niederzissener Juden, eingeweiht werden konnte. Inzwischen hat sich eine Bürgerinitiative zum Synagogenprojekt gebildet.

 

Juden in Niederzissen

Brunhilde Stürmer und Gerd Friedt /2.v.l.) erarbeitenden eine umfassende Dokumentation des Friedhofes Niederzissen. Neben der Autorin (vorne) steht Sara Berger, die aus Israel anreiste
Dr. Larry Friedman (v.l.) enthüllte mit Richard Keuler das von Steffi Friedman geschaffene Bronze-Werk „Never again“.

 

 

Buch über jüdische Schätze aus Niederzissen


 

Die Hoffnung auf eine Erweiterung und Intensivierung der wissenschaftlichen Untersuchungen hat auch Ortsbürgermeister Richard Keuler: „Noch zahlreiche Kisten und Säcke voller Fundstücke warten auf ihre Sichtung und Erfassung." Hoffnungsträger ist Prof. Andreas Lehnardt, Inhaber eines Lehrstuhls für Judaistik an der Uni Mainz, der die Aufarbeitung der Funde aus der Niederzissener Genisa in Form eines Projektes realisieren möchte und sich im Buch mit den religiösen Handschriften befasst.

Seine Mitarbeiterin Elisabeth Singer stellte einige Schriftstücke vor, Linda Wiesner zeigte und erläuterte eine Auswahl textiler Funde, über die sie im Buch schreibt und derzeit auch ihre Doktorarbeit verfasst. „Mit mehr als 200 Objekten handelt es sich um einen außergewöhnlich großen Fund", stellte sie fest. Annette Weber, Professorin für Jüdische Kunst in Heidelberg, beschreibt zusammen mit Andreas Lehnardt die Projektperspektiven und die Einordnung der Niederzissener Genisa. In seiner Begrüßung bedankte sich Ortsbürgermeister Richard Keuler bei allen, die Beiträge zum Erscheinen des Buches geleistet haben. Dazu gehören neben den Wissenschaftlern auch Brunhilde Stürmer und Gisela Reichrath aus Niederzissen sowie Gerd Friedt aus München, die sich mit der jüdischen Geschichte in Niederzissen befassen.

Danke sagte Keuler aber auch einigen Sponsoren für finanzielle Unterstützung, ohne die ein Verkaufspreis von 15 Euro nicht machbar gewesen wäre. Kreisbeigeordneter Fritz Langenhorst hob das Engagement der Gemeinde und des Kultur- und Heimatvereins bei der Sanierung des Synagogengebäudes und bei der Bergung der Genisa hervor: „Sie haben hier Vorbildliches geschaffen." Dem schloss sich Norbert Wagner, der Vorsitzende des Fördervereins, an: „Wunderbar, was aus dem Projekt geworden ist."

 

Brunhilde Stürmer in der Synagoge

Rhein Zeitung Bad Neuenahr-Ahrweiler vom Mittwoch, 7. November 2012, Seite 20

 

Historie Für Düsseldorfer Professor sind Genisa-Funde in der ehemaligen Synagoge von bundesweiter Bedeutung

Hans-Willi Kempenich

Niederzissen. Das Interesse am Buch „Zeugnisse jüdischen Lebens in Niederzissen" ist groß. So groß sogar, dass bei der Vorstellung des Werkes über die Genisa-Funde in der ehemaligen Synagoge für einige Besucher nur noch Stehplätze blieben. Die öffentliche Beachtung ist nicht weiter verwunderlich angesichts der Vielfalt und Vielzahl der geborgenen Relikte der jüdischen Gemeinde, die teilweise noch aus dem 18. Jahrhundert stammen. Als „einen der bedeutsamsten Funde in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten", bezeichnet Prof. Falk Wiesemann, Historiker an der Uni Düsseldorf und Herausgeber des Buches, was auf dem Dachboden des früheren Gotteshauses entdeckt wurde.

Noch nicht alle Funde untersucht

Dass überhaupt so viele zum Teil mehr als 200 Jahre alte Druckwerke, Handschriften und Textilien bis heute erhalten sind, ist einem jüdischen Glaubensbrauch zu verdanken. Danach dürfen alte Gebetbücher, liturgische Schriften und religiöse Utensilien keinesfalls weggeworfen werden, wenn sie nicht mehr brauchbar sind. Vielmehr werden sie in eine Genisa gegeben, die sich meist in der Synagoge befindet. Die Niederzissener Genisa ist so umfangreich, dass längst noch nicht alle Fundstücke untersucht werden konnten. „Insofern ist das Buch keine Dokumentation, sondern der Einstieg in die Erschließung", sagte der Herausgeber.