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10.11.2008
Gedenken

Mit einem Kloß im Hals gelesen

Von Frank-Uwe Orbons

In vielen Orten im Kreis wurde der Opfer der Reichspogromnacht 1938 gedacht. In Schweigemärschen zogen Bürger durch Hürth, Erftstadt und Brühl.

 

 

Die Schülerin Atanasia Manoli verlas die Namen verfolgter und ermordeter Kerpener Juden. (Bild: Orbons)

Kerpen Der 9. November ist für alle Deutschen ein schicksalhafter Tag. Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist untrennbar mit diesem Herbsttag verbunden. Sei es die Ausrufung der Republik vor 90 Jahren durch Philipp Scheidemann, der vor der Münchner Feldherrenhalle gescheiterte Hitler-Ludendorff-Putsch 1923 oder die Öffnung der Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1989. Aber der 9. November 1938 hat sich unauslöschlich als Mahnung in das deutsche Gewissen gebohrt.

Wie in vielen anderen Städten und Gemeinden in Deutschland gedachte am Sonntag die Stadt Kerpen der Verfolgten und Opfer der Pogrome zwischen dem 7. und 11. November 1938. Ihren Höhepunkt fanden diese am 9. November vor 70 Jahren mit der Plünderung und Zerstörung jüdischen Eigentums sowie der Ermordung, Verschleppung und Inhaftierung jüdischer Mitbürger. Der 9. November markiert den Beginn der systematischen Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten.

Weil es regnete, fand die Gedenkveranstaltung nicht wie geplant am Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus statt, sondern im Foyer des Rathauses. Die Schülerinnen Berivan Dalou (18), Esra Tiras (16) und Atanasia Manoli (15) von der Kerpener Adolf-Kolping-Schule verlasen die Namen der 129 Opfer und deren letzten Aufenthaltsort. Dalou nahm vor zwei Jahren an einem Kurs teil, der als Abschluss eine Fahrt in die Partnerstadt Kerpens, das polnische Oswiecim, vorsah. Dort besuchte man auch das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. „Da hat man schon einen Kloß im Hals, wenn man sich vorstellt, dass unter den Opfern auch Dreijährige waren. Man bekommt die Namen nur schwer über die Lippen, weil man sich schnell bildhaft eine Person vorstellen kann“, waren sich die Schülerinnen nach der Andachtszeremonie einig.

Heute leben noch zwei der ehemals vertriebenen Kerpener Juden: der 88-jährige Fritz Röhr wohnt in New York. Der 1932 in Kerpen geborene und heute in St. Denis bei Paris lebende Charles Schwarz wurde als Ehrengast empfangen.

Aber auch in anderen Kommunen des Kreises gab es Gedenkfeiern zum 9. November. In Brühl, Hürth und Erftstadt beispielsweise fanden Schweigemärsche statt. In Erftstadt verlegte Gunther Demnig außerdem seine Stolpersteine, und in der evangelischen Kirche der Versöhnung zeigen Erftstädter Künstler Arbeiten zum Thema.

 

Die Schicksale hinter den 129 Namen

 Stadtarchiv und Heimatfreunde veranstalteten Gedenken für Opfer des Nationalsozialismus

EVA JUNGGEBURTH

 

KERPEN. Nathan Baum, Else Kahn, Moses Voos, Max Wolff, Helga Leiser, Selma Roer - das sind nur einige der 129 Namen, die drei Schülerinnen der Adolf-Kolping-Schule im Rathaus verlasen. Hinter den Namen stehen die Schicksale ermordeter Jüdinnen und Juden, die aus Kerpen stammen. Im Rahmen des 70. Gedenktages der Reichspogromnacht hatten sich viele Kerpener auf Geheiß des Stadtarchivs und der Heimatfreunde Stadt Kerpen im Rathaus versammelt, um der Ermordeten zu gedenken.

 

Dass es auch in Kerpen zu den Ausschreitungen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam, daran erinnerte Jutta Schnütgen-Weber, Fraktionsvorsitzende der Kerpener Grünen und zweite stellvertretende Bürgermeisterin Kerpens. Auch in der Kolpingstadt wurde die Synagoge verwüstet, das Inventar zerstört und verschleppt. Eine wachsende Menschenmenge zog weiter zu jüdischen Geschäften und Wohnungen, um sie ebenfalls zu zerstören.

 

"Warum hat sich die Generation meiner Eltern nicht dagegengestellt, warum gab es einen weit verbreiteten Antisemitismus, der den Nährboden für die widerliche Propaganda der Nazis bot?", fragte Schnütgen-Weber. Es sei "unbegreiflich", dass der jüdische Friedhof in Sindorf während des Krieges eingeebnet und als Ackerland genutzt wurde. Musikalisch umrahmt wurde das Gedenken von der Gruppe "Klezmer Chai", die aus dem Judentum stammende Volksmusik spielte. Dabei herrschte andächtige Stille im Raum.

 

Einer, der sich intensiv mit der jüdischen Geschichte Kerpens auseinandergesetzt hat, ist Gerd Friedt. Jahrelang habe er recherchiert und viele Quellen ausgewertet, um die Geschichte der Kerpener Juden seit dem Mittelalter darzustellen. Die Publikation "Carpena Judaica. Zur Geschichte der Kerpener Juden", herausgegeben vom Verein der Heimatfreunde, stellte er erstmals im Kerpener Haus für Kunst und Geschichte vor. Sie ist zum Preis von 15 Euro im Haus für Kunst und Geschichte oder im örtlichen Buchhandel erhältlich.

 

Unter den Besuchern der Buchvorstellung und der Eröffnung der Ausstellung zu demselben Thema befand sich auch Charles Schwarz mit seiner Frau und seinem Sohn. 1932 in Kerpen geboren, lebt er heute in der Nähe von Paris. 1939 floh er mit seinen Eltern nach Frankreich und überlebte dort, wie seine Mutter, den Holocaust.

 

"Wir hatten viel Glück", berichtete er den Anwesenden. Sein Vater Joseph allerdings wurde im Rahmen einer Razzia in der Synagoge in Lyon verhaftet, deportiert und in Auschwitz ermordet.

13.11.2008

 

Ausgreifende Geschichte

Viele Spuren jüdischen Lebens entdeckt

Von Frank-Uwe Orbons,

Das neue Buch von Gerd Friedt beschäftigt sich mit der Geschichte Kerpener Juden. Als Ergänzung sind im Haus für Kunst und Geschichte Exponate aus Privatsammlungen zu sehen.

Geistliche und weltliche Exponate aus dem jüdischen Leben der vergangenen 300 Jahre machen einen Großteil der Ausstellung aus, die als Ergänzung zu Gerd Friedts Buch im Kerpener Haus für Kunst und Geschichte zu sehen ist. BILDER: ORBONS
Das Kerpener Stadtarchiv stellte für die Carpena Judaica Ausstellung zahlreiche Gerichtsakten zur Verfügung.

Kerpen - „Er ist ein Faszinosum“. Susanne Harke-Schmidt, Leiterin des Kerpener Stadtarchivs, kommt bei der Beschreibung des Heimatforschers Gerd Friedt ins Schwärmen. „Er geht nur einmal durch die Stadt und hat direkt fünf Kontakte, die ihm etwas über das jüdische Leben in Kerpen erzählen können.“ Genau diese Erinnerungen hat Gerd Friedt nun in einem Buch veröffentlicht, das im Rahmen der Buchreihe des Kerpener „Verein der Heimatfreunde“ nun den Band elf ausmacht. Genau genommen handelt es sich sogar um die viel weiter ausgreifende Geschichte der Kerpener Juden seit dem Mittelalter bis zu den letzten Deportationen im Juli 1942. Nachkommen von zwei jüdischen Familien gibt es bis heute in Kerpen. Die am 9. November in den Räumen des Kerpener Haus für Kunst und Geschichte vorgestellte knapp 450 Seiten große Anthologie bringt Erinnerungen wieder zum Leben oder in den Worten Friedts: „Die Opfer aus der Anonymität einer Nummer zurückzuholen und ihnen ein Gesicht zu geben, ist Sinn dieser Publikation.“ Gerd Friedt, 1945 geboren, erforscht seit über drei Jahrzehnten zu unterschiedlichen Fragestellungen der jüdischen Geschichte im Rheinland, bevorzugt im Altkreis Bergheim. Für seine Forschungsarbeit wurde Friedt 2001 mit dem Bundesverdienstkreuz und 2006 mit dem Rheinlandtaler ausgezeichnet. Als besonderen Schatz präsentiert das Buch das Beschneidungsbuch des Isaac Kaufmann von Blatzheim, wahrscheinlich das einzige jüdische Buch, das in Kerpen geschrieben wurde.

Als Ergänzung zur Buchveröffentlichung zeigt das Haus für Kunst und Geschichte eine sehenswerte Ausstellung, die von der Stadtarchivarin Susanne Harke-Schmidt kuratiert wurde. Aus der Sammlung Friedts und weiterer Privatsammlungen speisen sich die meisten Exponate. Weltlichen Erinnerungsstücken wie Gerichtsakten sind eine Hand voll religiöser Gegenstände entgegengesetzt. Nach Angaben Friedts gibt es heute nicht mehr als diese knapp zehn Gegenstände, die im Altkreis Bergheim zur Ausübung der Religion dienten.

Die Nachwirkungen der Reichspogromnacht in Kerpen waren eindeutig. In einem Bericht vom 14. November 1938 schildert der damalige Bürgermeister, dass einhundert Prozent der jüdischen Gebäude erfasst wurden. Ab dem Jahr 1940 bis heute wird die nicht zerstörte Synagoge als Privathaus genutzt. Dabei war das Zusammenleben vor der Machtergreifung der Nazis durchaus harmonisch. Wie sich Charles Schwarz, einer der letzten aus Kerpen vertriebenen Juden, im Rahmen der Buchpräsentation erinnerte, gab es keine Ressentiments gegenüber Juden. Die Ausstellung untermauert diese Beobachtung eindrücklich. Im Jahr 1925 wurde ein jüdischer Mitbürger zum Präsidenten der Karnevalsgemeinschaft „Gemütlichkeit“ gewählt. 1926 gab es sogar drei jüdische Ehrenmitglieder bei der St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft.

 

Carpena Judaica - die Publikation (ISBN 978-3-00-026154-1) ist zum Preis von 15 Euro im Haus für Kunst und Geschichte und im örtlichen Buchhandel erhältlich. Die Ausstellung ist bis zum 16. April 2009 im Haus für Kunst und Geschichte zu sehen. Öffnungszeiten: Di., Mi. 9.00-12.00 Uhr, Do. 14.00-18.00 Uhr sowie nach Vereinbarung.

 

 

12.November 2008

1000 Jahre jüdische Geschichte

Zum 70. Jahrestag der Reichspogromnacht Namen ermordeter Juden verlesen

Autor Gerd Friedt möchte mit der "Carpena Judaica", einer Darstellung jüdischer Geschichte in Kerpen, ein interessantes Fenster in die Vergangenheit öffnen. Foto: Scheel

Kerpen (cs). In der Nacht vom 9. auf den 10. November war es genau 70 Jahre her, dass in Deutschland jüdische Synagogen brannten, jüdische Geschäfte verwüstet und geplündert und jüdische Bürger ermordet wurden. Vorwand für den vom nationalsozialistischen Regime als "Akt des Volkszorns" deklarierten Terror gegen die Juden war ein Attentat, das der erst 17-jährige Jude Herzel Grynszpan zwei Tage zuvor auf einen deutschen Botschaftsangehörigen in Paris verübt hatte. Die Bilanz der Pogromwelle war verheerend: weit mehr als 1.300 Juden starben während oder in Folge der Ausschreitungen, rund 1.400 Synagogen in Deutschland und Österreich wurden stark beschädigt oder ganz zerstört.

Auch in Kerpen kam es in dieser Nacht zu Ausschreitungen: SA-Männer verwüsteten die Synagoge, zerstörten oder verschleppten ihr Inventar. Eine sich vergrößernde Menschenmenge zog aus, jüdische Geschäfte und Wohnungen zu demolieren, bis tief in die Nacht dauerten die Gewalttätigkeiten an. Den 70. Jahrestag der Novemberpogrome nahm der Verein der Heimatfreunde Kerpen" zum Anlass, mit einer Gedenkveranstaltung an die Ereignisse vom 9. November 1938 zu erinnern. Schüler und Schülerinnen der Adolf-Kolping-Schule verlasen die Namen ermordeter Juden und Jüdinnen aus Kerpen. Im Anschluss daran wurde im Haus für Kunst und Geschichte" die Ausstellung "Carpena Judaica - Zur Geschichte der Kerpener Juden seit dem Mittelalter" eröffnet. Susanne Harke-Schmidt, Kerpener Stadtarchivarin und Vorsitzende des Heimatvereins, begrüßte die zahlreich erschienenen Gäste - und mit ganz besonderer Freude den 1932 in Kerpen geborenen Juden Charles Schwarz, der dem Holocaust entkam und heute in der Nähe von Paris lebt.

Da die jüdische Gemeinschaft sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts assimiliert hatte und gut in die Kerpener Gesellschaft integriert war - so waren zum Beispiel im Jahr 1908 sechs der 27 Gründungsmitglieder der "Karnevalsgesellschaft Gemütlichkeit Kerpen" Juden - bleibt es für immer unverständlich, warum auch in Kerpen die brutale Entrechtung der Juden so schnell möglich wurde.

Doch weder die Ausstellung noch die gleichnamige Publikation, die der Autor Gerd Friedt in einer bewegenden Ansprache vorstellte, befassen sich vorrangig mit dem dunkelsten Kapitel der Deutschen Geschichte, dem Holocaust. Vielmehr liegt mit Gerd Friedts "Carpena Judaica" - vom Heimatverein als Band XI der "Beiträge zur Geschichte und Heimatkunde" herausgegeben - jetzt eine umfassende Veröffentlichung über die Juden in Kerpen seit dem Mittelalter vor, für die der Autor in jahrelanger Forschungsarbeit eine beeindruckende Menge an Quellen ausgewertet hat.

Der gebürtige Kölner Gerd Friedt lebt seit über 20 Jahren in München, bleibt seiner Heimat jedoch eng verbunden: seit 1975 nutzt er jede Gelegenheit, um jüdischer Geschichte im Rheinland nachzuspüren.

Wer die beeindruckenden Dokumente zur fast 1000-jährigen Geschichte der Kerpener Juden sehen und jenseits aller gängigen Klischees erfahren möchte, welche Spuren Kerpens Juden und ihre Nachkommen - nicht nur in Kerpen - hinterlassen haben, dem seien Ausstellung und Publikation ans Herz gelegt. Bis zum 16. April 2009 ist "Carpena Judaica" im Haus für Kunst und Geschichte" noch zu sehen, immer dienstags und mittwochs von 9 bis 12 Uhr, donnerstags von 14 bis 18 Uhr sowie nach Vereinbarung.